Archiv des Ortes
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Fotografische Strategien

Die Fotografien aus den unterschiedlichen Quellen vor Ort, die in den Sammlungen Schlieren und Oberengadin enthalten sind, zeigen je unterschiedliche Felder räumlicher Praxis. Gleichzeitig unterscheiden sie sich in Ästhetik und Technik. Nachfolgend wird dargestellt, inwiefern die unterschiedlichen fotografischen Strategien, die in den verschiedenen Produktionskontexten angewendet werden, für die Darstellung und Dokumentation von Raumentwicklung produktiv sind.

Dokumentarfotografie von Amateuren

Die Fotografien in den internen Dokumentationen der Baufirmen, Gemeindeämter, Architektur- und Planungsbüros, die von Projektleitern und Mitarbeitern fotografiert werden, können von der fotografischen Vorgehensweise her sowohl der Dokumentar- als auch der Amateurfotografie zugeordnet werden. Ebenso wie die Sammlungen engagierter Bewohner, welche ihren Ort systematisch dokumentieren, bilden sie ein eigenes fotografisches Genre: Eine Dokumentarfotografie, die nicht von Berufsfotografen produziert wird, sondern von denjenigen, welche selber in der räumlichen Praxis tätig sind, bzw. den Bewohnern und Nutzern eines Lebensraumes.
Die Fotografien in den internen Dokumentationen werden mit dem Ziel hergestellt, bauliche Eingriffe und topografische Gegebenheiten darzustellen. Das Bild dient der Vergegenwärtigung räumlicher Situationen und soll Informationen über den dargestellten Sachverhalt vermitteln. Diese Bilder sind Gebrauchsfotografien, «operationelle» Bilder: Sie werden als Werkzeuge in einem Arbeitsprozess, z.B. bei der Erteilung einer Baubewilligung oder der Ausarbeitung eines Bauprojektes, eines Wettbewerbbeitrages, in einem Planungsprozess benutzt. Ziel ist nicht die Erzeugung eines ästhetisch ansprechenden Bildes, sondern die präzise Darstellung einer bestimmten räumlichen Situation.
Jedes fotografische Bild zeigt mehr und anderes, als der Fotograf beabsichtigt und im Moment der Aufnahme wahrgenommen hat. In der Amateurfotografie tritt dieser «Überschuss» an Informationen und Bedeutungsebenen verstärkt zu Tage. Ein fotografischer Amateur konzentriert sich in der Regel auf ein in der Bildmitte platziertes Hauptmotiv. Das, was sich zum Zeitpunkt der Aufnahme neben diesem Motiv vor der Kamera befindet, wird automatisch mit aufgezeichnet, gerät gewissermassen «zufällig» ins Bild. In der Amateurfotografie ist der Anteil an nicht-intendierter Bildinformation im Vergleich zur professionellen Fotografie grösser. Dies trägt entscheidend zu ihrem Wert als historisches Dokument bei: In den Fotografien der Baufirmen, Gemeindeämter und Bewohner sind neben den Hauptmotiven (den dargestellten Gebäuden, Baustellen, Strassenabschnitten) eine Fülle an Informationen zur räumlichen Praxis an diesem konkreten Ort vorhanden, die unabsichtlich mit fotografiert wurden. Im Unterschied z.B. zur Postkartenfotografie, die versucht, ein auf allen Ebenen ansprechendes, ästhetisches, repräsentatives Bild eines Ortes, einer Landschaft zu erzeugen, bildet diese dokumentarische Fotografie eine gleichsam unzensurierte Darstellung räumlicher Praxis.
Aus dem Bild selber ist häufig ohne weitere Angaben nicht ersichtlich, was aus der Sicht des Fotografen ursprünglich das Hauptsujet darstellte. Der grosse Anteil an Bildinformation, welche nicht gemäss einem ästhetischen Code, einer klar definierten fotografischen Strategie dargestellt ist, erzeugt einen Bildraum, der offen ist für unterschiedliche Lesarten und Interpretationsweisen. Je nach Interesse des Betrachters können unterschiedliche Aspekte und Bedeutungsebenen in den Vordergrund treten. Neben der Fülle an nichtintendierter Bildinformation, dem «Bedeutungsüberschuss», liegt in dieser Offenheit ein spezifisches Potential der Dokumentarfotografie von Amateuren.

Professionelle Dokumentarfotografie

Die Dokumentarfotografie ist das klassische fotografische Genre zur Darstellung von Ort und Raum. Fotografiert werden je nach Interessen der Auftraggeber bzw. der Fotografen selber praktisch alle Felder räumlicher Praxis. Die Dokumentarfotografie erzeugt Bilder, welche durch Abbildungsgenauigkeit, Bildschärfe sowie räumliche Tiefenwirkung bestechen. Neben der technischen Ausrüstung (Mittel- und Grossformatkameras, Stativ) ist dies durch die gezielte Lichtführung und die Entwicklungs- und Vergrösserungstechnik bedingt. Für die professionelle Dokumentarfotografie ist die Abbildungsgenauigkeit des Mediums von zentraler Bedeutung. Der Betrachter sieht «durch das Bild hindurch» direkt auf den abgebildeten Gegenstand, die Materialität des Bildes wird durch die perfekte Technik gleichsam zum Verschwinden gebracht. Ziel ist eine sachliche Darstellung, der Fotograf versucht persönliche ästhetische Vorlieben und eine subjektive Wahrnehmung möglichst zu vermeiden. Die Dokumentarfotografie entwickelt eine «Bildrhetorik der Nüchternheit und Objektivität». Ihre spezifische Ästhetik, ihre Präzision in Standort- und Ausschnittwahl erzeugen Bilder, welche für die Darstellung von Raum, Ort und Landschaft, für die Dokumentation räumlicher Praxis sehr produktiv sind. Die Bilder der professionellen Dokumentarfotografie vermitteln jedoch häufig einen Eindruck von Statik und Zeitlosigkeit. Der Augenblick, das Momenthafte der Fotografie, tritt in den Hintergrund. Raum erscheint als immobil, gegeben, unberührt von zeitlicher Veränderung, gleichsam aus der Zeit herausgehoben.
Wie die professionelle Fotografie aller Sparten versucht auch die Dokumentarfotografie, den Bildraum im Hinblick auf die angestrebten inhaltlichen Aussagen und ästhetischen Ziele möglichst weitgehend zu kontrollieren. Der Berufsfotograf wählt Standpunkt und Ausschnitt so, dass möglichst alle dargestellten Objekte und Bildgegenstände mit der angestrebten Bildwirkung, der Dokumentation eines bestimmten Objektes, einer Strasse, einer topografischen Situation, kongruent sind. Die vollständige Kontrolle des Bildraumes bleibt jedoch auch für den professionellen Fotografen unerreichbar. Neben den Aspekten, die gezielt und bewusst dokumentiert werden, enthält deshalb auch die Dokumentarfotografie von Berufsfotografen einen «Bedeutungsüberschuss», der ihren Wert als historisches Dokument zusätzlich erhöht.

Postkartenfotografie

Die Postkartenfotografie bildet einen Produktionskontext mit einer standardisierten Bildsprache und einem durchgehenden ästhetischen Code. Die Bildtypen sind denjenigen der bestehenden Sammlung Ortsansichten der Schweizerischen Nationalbibliothek vergleichbar: Gesamt- und Teilansichten der verschiedenen Ortschaften, Aufnahmen von Strassen, Gassen und Plätzen im Ort, einzelne Gebäude. Dazu kommen Landschaftsbilder sowie Aufnahmen von touristischer Infrastruktur. Der Bildaufbau entspricht einer klassischen Landschaftsdarstellung mit Vordergrund - Mittelgrund - Hintergrund. Fotografiert wird ausschliesslich bei Sonnenschein sowie in den für den Tourismus wichtigen Jahreszeiten (Sommer oder Winter, teilweise Herbst). Verwendet werden Mittel- und Grossformatkameras, fotografiert wird mehrheitlich auf Farbdiafilme.
Sujets, Motive und Bildgegenstände bleiben konstant und wiederholen sich in den verschiedenen Beständen. Für diverse Motive wie z.B. Gesamt- und Teilansichten von St. Moritz und Samedan oder der Ebene um Sils existieren feste Aufnahmestandpunkte, von denen aus die Bilder jeweils wiederholt werden, wenn sich die Bebauung verändert hat.
Die Postkarten- und Werbefotografie vermittelt eine aus touristischer Sicht idealtypische Darstellung von Ort und Landschaft. Diejenigen Ebenen räumlicher Praxis, welche dieser Sicht zuwiderlaufen, werden nach Möglichkeit nicht dargestellt. Als Gebrauchsfotografien mit einer klar definierten kommunikativen Absicht vermitteln sie ein bestimmtes Image des Oberengadins. Sie werden im Hinblick auf die Produktion einer bestimmten Bildwelt hergestellt und in den unterschiedlichen Kanälen von Marketing und Werbung genutzt.
Auch die Sichtweise der Postkartenfotografie ist für die Darstellung und Dokumentation von Raumentwicklung produktiv. Diejenigen Aspekte räumlicher Praxis, die für den Tourismus relevant sind, werden über einen langen Zeitraum kontinuierlich dokumentiert. Die teilweise standardisierten Aufnahmestandpunkte ermöglichen den Vergleich unterschiedlicher Stadien von Bebauung und Besiedlung am jeweiligen Ort. Komposition, Technik und Lichtführung erzeugen Bilder, die einen Eindruck von Dreidimensionalität und räumlicher Tiefe vermitteln. Diese Abbildungsgenauigkeit macht im Detail sichtbar, welche Objekte und Elemente an einem konkreten Ort im Raum platziert werden und wie sich diese im Lauf der Zeit verändern.
Trotz des klar definierten ästhetischen Codes enthalten auch Postkarten- und Werbefotografien einen «Bedeutungsüberschuss», einen Anteil an nicht-intendierter Bildinformation. Neben der Bedeutung, welche das Hauptmotiv für die Darstellung räumlicher Praxis hat, sind auch im Falle der Postkartenfotografie die zufällig mit fotografierten Elemente, Objekte, baulichen Situationen für die Dokumentation von Raumentwicklung besonders produktiv. Gerade in den Bildern, die dem Code nicht in idealtypischer Weise entsprechen, ist der Anteil an solcher nicht-intendierter Information besonders gross.

Pressefotografie

In der Pressefotografie dominieren bestimmte fotografische Vorgehensweisen und ästhetische Codes, die jedoch weniger stark standardisiert sind als z.B. diejenigen der Postkartenfotografie. Durchgängig sind die Konzentration auf ein sofort erkennbares Hauptmotiv sowie Bildkompositionen, die dem Betrachter ein Gefühl von Nähe vermitteln sollen. Die Pressefotografie operiert ereignisbezogen. Orte und Landschaften, bauliche Situationen, topografische Gegebenheiten werden dann fotografiert, wenn sie für die journalistische Berichterstattung relevant sind, z.B. als Gegenstand der politischen Auseinandersetzung oder als Austragungsort bedeutender Sportereignisse. Die fotografischen Mittel - Standort- und Ausschnittwahl, Komposition, Lichtführung - werden gezielt dazu eingesetzt, eine möglichst direkte Darstellung von Wirklichkeit zu erzeugen. Auch unbewegte Gegenstände und räumliche Situationen werden fotografisch als «Ereignis» inszeniert.
Die Bilder in den lokalen Archiven werden mehrheitlich nicht von ausgebildeten Fotografen, sondern von den Redaktoren fotografiert. Sie können von der angestrebten Bildwirkung her der Pressefotografie, bezüglich der fotografischen Kontrolle des Bildraumes und dem Anteil an nicht-intendierter Information der Amateurfotografie zugeordnet werden.
Die Fotografien in den überregionalen Pressearchiven werden von professionellen Pressefotografen produziert. Entsprechend sind die Bilder so komponiert, dass möglichst alle Bildelemente der angestrebten Bildwirkung entsprechen. Die Ortsansichten einzelner Dörfer und die Aufnahmen von Strassen, Gassen etc. im Archiv von Keystone sind von der Standortwahl her den Postkartenansichten vergleichbar. Sie unterschieden sich jedoch bezüglich Witterung und Jahreszeit, indem z.B. auch Bilder aus der Zwischensaison oder bei Schneetreiben und schlechtem Wetter zu sehen sind. Die Pressefotografie ist deshalb vor allem auch im Hinblick auf die Vermittlung unterschiedlicher Atmosphären von Orten und Räumen bedeutsam.
Der ästhetische Code der Pressefotografie betont auch in den Aufnahmen von statischen baulichen Situationen und Landschaften das Momenthafte. Vergleichbar der Amateurfotografie ist in den Pressebildern deutlich wahrnehmbar, dass auch Fotografien von Orten und Räumen Momentaufnahmen sind. Die Pressefotografie ist deshalb insbesondere auch für die Darstellung des Prozesshaften von Raumentwicklung produktiv.

Konstanz der fotografischen Strategien

Die fotografischen Strategien bleiben innerhalb der einzelnen Produktionskontexte im untersuchten Zeitraum vergleichsweise konstant. Die Entwicklung der Fototechnik, neue Filme, Kameras etc. haben zwar Einfluss auf Materialität, Farbigkeit, Kontrast, Schärfe etc. verändern aber die grundsätzliche Bildauffassung in den einzelnen Bereichen der professionellen Dokumentarfotografie, der Amateurfotografie, der Postkartenfotografie oder der Pressefotografie kaum. Innerhalb der einzelnen Produktionskontexte wird die Veränderung der Objekte und Elemente, die den Raum konstituieren, mittels einer konstanten Bildsprache dokumentiert. Die Veränderung der Bildgegenstände kann im Vergleich unterschiedlicher Bilder wahrgenommen werden, ohne von einer gleichzeitig stattfindenden tiefgreifenden Veränderung des fotografischen Stils und der Ästhetik überlagert und dominiert zu werden.


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