Ein relationales Verständnis von Raum als Grundlage für die Konzeption eines fotografischen Archivs zur Raumentwicklung
Die Fotografie bildet sichtbare Phänomene ab. Sie kann keine abstrakten Begriffe darstellen, sondern dokumentiert konkrete räumliche Situationen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Als Bild einer konkreten, gegebenen räumlichen Situation stellt die Fotografie – im Unterschied zur Raumdarstellung mittels Karten, Plänen, Daten, theoretischen Begrifflichkeiten – einen spezifischen Bezug zur alltäglichen Wahrnehmung und Erfahrung von Raum her. Die fotografische Darstellung ist jedoch ebenso ein Bild, eine symbolische Repräsentation von Raum, und damit eingebunden in das System der kulturell codierten Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster.
Als Grundlage für die Konzeption eines fotografischen Archivs zur Raumentwicklung muss ein Verständnis von Raum und räumlichem Wandel gefunden werden, welches sowohl die Ebene des materiellen, gebauten Raumes, als auch die Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung bzw. der Repräsentation von Raum in die Überlegungen mit einbezieht. Es muss so angelegt sein, dass nicht nur Entwicklungen in einem Feld – z.B. der Architektur – beschrieben werden, sondern räumlicher Wandel umfassend als Ergebnis der Veränderungen in Bebauung, Nutzung und Gebrauch von Orten und Landschaften dargestellt werden kann.
In der Diskussion neuer räumlicher Phänomene und in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung ist die Beschäftigung mit dem Raumbegriff für Raumplanung, Architektur und Städtebau, aber auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, ein zentrales Thema. Die Überlegungen zu Raum und Raumbegriff des französischen Philosophen Henri Lefebvre und der deutschen Soziologin Martina Löw sind zwei Beispiele für diese Auseinandersetzung. Sie entwickeln ein theoretisches Verständnis von Raum und eine Begrifflichkeit, welche aus der Sicht des Forschungsteams der Zürcher Hochschule der Künste eine produktive Grundlage für die Auseinandersetzung mit der fotografischen Dokumentation von räumlichem Wandel bilden.
Henri Lefebvre entwickelte seine Theorie des Raumes in den 1970er Jahren. Sie wird heute in der Architektur und in den Sozialwissenschaften breit rezipiert und bildet die theoretische Grundlage für die Studie «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait» des ETH Studio Basel / Institut Stadt der Gegenwart von 2006, einer der wichtigen und kontrovers diskutierten Publikationen zur Analyse und Beschreibung des räumlichen Wandels in der Schweiz aus den 2000er Jahren.
Die Soziologin Martina Löw entwickelte ihren Ansatz in ihrer Dissertation «Raumsoziologie» von 2001. Sie ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt mit den Arbeitsschwerpunkten Raumbezogene Gesellschaftsanalyse und Stadt- und Regionalsoziologie.
Ausgangspunkt für beide Ansätze bildet ein relationales Raumverständnis. Die Raumtheorie unterscheidet zwischen absolutistischen und relativistischen Raumvorstellungen. In der absolutistischen Vorstellung existiert der Raum unabhängig von der Materie. Bewegliche Körper und Dinge befinden sich in einem Raum, der selber unbewegt bleibt. Der Raum existiert kontinuierlich, für sich und bildet für alle eine gleiche, homogene Grundlage des Handelns. Diese Vorstellung eines «Behälterraumes» wurde in der Wissenschaft mit der Entwicklung der Relativitätstheorie von relativistischen Raumkonzeptionen abgelöst. Sie prägt jedoch nach wie vor das alltägliche Verständnis von Raum.
In der relativistischen Raumvorstellung existiert der Raum nicht unabhängig von den Körpern. Raum wird vielmehr verstanden als Relation, als Beziehungsstruktur zwischen Körpern. Die Körper, deren Anordnungen zueinander den Raum erst hervorbringen, befinden sich in ständiger Bewegung. Damit ist auch der Raum selber nicht mehr statisch, sondern wird prozesshaft und verändert sich fortwährend im Verlauf der Zeit. Da die Anordnung von Körpern nicht unabhängig vom Bezugssystem des Beobachters gedacht werden kann, ist Raum (wie die Zeit) nicht «absolut», sondern existiert stets «relativ» zum Bewusstsein des Beobachtenden.
Nachfolgend werden die für das Forschungsprojekt zentralen Aspekte der Theorien von Lefebvre und Löw zusammenfassend dargestellt.
Die erste Dimension der Raumproduktion bezeichnet Lefebvre als «räumliche Praxis». Ausgangspunkt ist die materielle Dimension des Raumes. Die materiellen Elemente und Objekte, welche Raum bilden, werden sinnlich wahrgenommen und zu einer räumlichen Ordnung des Gleichzeitigen verknüpft. Räumliche Praxis bezeichnet alles, was Menschen im und mit dem Raum tun: Welche Gegenstände und Objekte sie errichten, wie sie diese und sich selber im Raum bewegen, wie sie mit der Topografie umgehen, wie und wozu sie den Raum nutzen.
Die zweite Dimension der Raumproduktion ist der «konzipierte Raum». Die Verknüpfung von einzelnen wahrgenommenen, materiellen Elementen zu einem Raum setzt eine gedankliche Leistung, eine Vorstellung von Raum voraus. Diese «Repräsentationen des Raumes» umfassen sprachliche Beschreibungen, bildliche Darstellungen, Karten, Pläne, wissenschaftliche Definitionen etc. Darstellungen und Definitionen von Raum basieren auf gesellschaftlichen Konventionen und werden diskursiv verhandelt.
Die dritte Ebene der Produktion von Raum ist die Ebene der Bedeutung, des symbolische Gehaltes. Sie ist für die Erfahrung, das Erleben von Räumen entscheidend. Räume werden mit einem symbolischen Gehalt belegt, sie bezeichnen etwas ausserhalb ihrer selbst. Die symbolische Bedeutung von Räumen äussert sich beispielsweise in der Architektur von Sakralräumen oder von Räumen der Repräsentation politischer Macht. Sie zeigt sich in der Bedeutung von Kulturlandschaften für das Selbstverständnis eines Landes, sowie von Orten, die für die individuelle Biografie wichtig sind.
Raum entsteht im Zusammenspiel dieser drei Pole. Er ist nicht als Anordnung von materiellen Objekten und Artefakten zu verstehen, sondern als das praktische, mentale und symbolische Herstellen von Beziehungen zwischen diesen «Objekten». Raum ist nicht ruhend, immobil, gegeben, sondern ein vielschichtiges Gewebe, das laufend produziert und reproduziert wird.
Löw versteht Raum als «relationale Anordnung von sozialen Gütern»: von materiellen Elementen und Menschen. Raum ist nicht gegeben, sondern wird über das Anordnen von Elementen (in Relation zu anderen Anordnungen), also über Handlungen, hervorgebracht. Die Konstitution von Raum ist als Prozess zu verstehen. Löw unterschiedet dabei zwei verschiedene Prozesse der Raumkonstitution: Spacing und Synthese. Diese sind der «Räumlichen Praxis» und der «Konzeption von Raum» bei Lefebvre vergleichbar.
Spacing bezeichnet das Platzieren, das Errichten, Bauen oder Positionieren von Gebäuden, aber auch von beweglichen Gütern. Über Prozesse der Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung werden die einzelnen Elemente, die im Spacing platziert werden, miteinander verknüpft und zu Räumen zusammengefasst. Der Raumtyp «Strasse» z.B. entsteht, wenn Gebäude, Fahrbahn, Passanten, Fahrzeuge, angrenzende Läden sowie Kleinelemente wie Sitzbänke, Strassenlampen, Abfallkübel, Bäume etc. in einem bestimmten Verhältnis zueinander erbaut und platziert werden und von den Menschen, die sich darin bewegen, in der Wahrnehmung und Vorstellung entsprechend verknüpft werden. Diesen Verknüpfungsprozess bezeichnet Löw als Synthese. Im alltäglichen Handeln können die beiden Prozesse nicht voneinander getrennt werden. Das Bauen, Errichten und sich im Raum Bewegen ist ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden Elemente nicht möglich. Vorstellungen davon, was ein Raum ist und sein kann – was z.B. eine «Strasse», ein «Platz» ist – bestimmen, was wo gebaut wird. Darstellungen von Raum in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Planung, in der Architektur versteht Löw entsprechend ebenfalls als Syntheseleistungen. Sie bezeichnet diese als abstrahierend, da sie keine direkten Spacings nach sich ziehen.
Spacing und Synthese erfolgen im Alltag repetitiv. Die Anordnung von Elementen zu einem bestimmten Raumtyp folgt je einem Ordnungsprinzip. Die Elemente, welche den Raum «Strasse» bilden, werden immer nach einem vergleichbaren Muster angeordnet und wahrgenommen. Diejenigen Prozesse der Raumkonstitution, welche nach vorgegebenen, gesellschaftlich und institutionell abgesicherten Regeln erfolgen, bilden räumliche Strukturen. Raum, verstanden als relationale Anordnung, als Beziehung zwischen Elementen, hat selber keine materielle Qualität. Er wird aber als gegenständlich erlebt, wenn die Relationenbildung, also die Anordnung der Elemente, institutionalisiert wird, d.h. nach immer den selben Regeln erfolgt.
Das Spacing, das Platzieren, Errichten, Bauen von materiellen Elementen, ist an einen konkreten Ort gebunden. Dieser spezifische, meist geografisch markierte Ort, die konkrete Stelle machen die Entstehung von Räumen erst möglich. Umgekehrt bringt der Prozess der Raumkonstitution den Ort hervor: Orte werden erst über die Besetzung mit konkreten materiellen oder symbolischen Gütern als solche kenntlich. Das Verhältnis von Ort und Raum ist ein wechselseitiges: Die Konstitution von Räumen schafft Orte, der Ort macht die Entstehung von Räumen erst möglich. Dabei können an einem Ort unterschiedliche Räume gleichzeitig existieren. Je nachdem, wie, von wem und aus welcher Betrachterperspektive die platzierten Elemente miteinander verknüpft werden, entstehen andere Räume am gleichen Ort.
Löw betont die Bedeutung der sinnlichen – visuellen, akustischen, taktilen, olfaktorischen –Wahrnehmung für den Prozess der Raumkonstitution. Die atmosphärische Qualität von Räumen entsteht in der Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung der Elemente, welche den Raum bilden, und der symbolisch-materiellen Ausstrahlung, der Wirkung dieser Elemente. Wahrnehmung wird dabei als Handlung, als Aktivität verstanden. Sie ist selektiv und geprägt durch Wahrnehmungsschemata, welche über Bildung, Sozialisation und individuelle Biografie vorgegeben sind. Die symbolisch-materielle Wirkung der Elemente und Gegenstände ist über Gestaltung und Design inszeniert und gesteuert. Die atmosphärische Qualität von Räumen ist deshalb nicht rein subjektiv und individuell, sondern sozial produziert. Sie entsteht über die Wechselwirkung von inszenierten Platzierungen und habitualisierter Wahrnehmung.
Die Verknüpfung von Elementen zu Räumen – in Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung – erfolgt immer aus einem spezifischen Blickwinkel. Es kann deshalb keine «objektive», betrachterunabhängige Produktion, Darstellung und Beschreibung von Räumen geben. Im Sinne einer "Beobachtung zweiter Ordnung" kann die Betrachterposition jedoch problematisiert und deutlich gemacht werden, z.B. in der Wissenschaft oder in der Kunst.
Dünne, Jörg et al. (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2008.
Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Paris 1974.
Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001.
Schmid, Christian: Netzwerke – Grenzen – Differenzen: Auf dem Weg zu einer Theorie des Urbanen. In: Diener, Roger et al. (Hg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait. Basel 2006, S. 164 – 223.
Schmid, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaf. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart 2005.
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Als Grundlage für die Konzeption eines fotografischen Archivs zur Raumentwicklung muss ein Verständnis von Raum und räumlichem Wandel gefunden werden, welches sowohl die Ebene des materiellen, gebauten Raumes, als auch die Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung bzw. der Repräsentation von Raum in die Überlegungen mit einbezieht. Es muss so angelegt sein, dass nicht nur Entwicklungen in einem Feld – z.B. der Architektur – beschrieben werden, sondern räumlicher Wandel umfassend als Ergebnis der Veränderungen in Bebauung, Nutzung und Gebrauch von Orten und Landschaften dargestellt werden kann.
In der Diskussion neuer räumlicher Phänomene und in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung ist die Beschäftigung mit dem Raumbegriff für Raumplanung, Architektur und Städtebau, aber auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, ein zentrales Thema. Die Überlegungen zu Raum und Raumbegriff des französischen Philosophen Henri Lefebvre und der deutschen Soziologin Martina Löw sind zwei Beispiele für diese Auseinandersetzung. Sie entwickeln ein theoretisches Verständnis von Raum und eine Begrifflichkeit, welche aus der Sicht des Forschungsteams der Zürcher Hochschule der Künste eine produktive Grundlage für die Auseinandersetzung mit der fotografischen Dokumentation von räumlichem Wandel bilden.
Henri Lefebvre entwickelte seine Theorie des Raumes in den 1970er Jahren. Sie wird heute in der Architektur und in den Sozialwissenschaften breit rezipiert und bildet die theoretische Grundlage für die Studie «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait» des ETH Studio Basel / Institut Stadt der Gegenwart von 2006, einer der wichtigen und kontrovers diskutierten Publikationen zur Analyse und Beschreibung des räumlichen Wandels in der Schweiz aus den 2000er Jahren.
Die Soziologin Martina Löw entwickelte ihren Ansatz in ihrer Dissertation «Raumsoziologie» von 2001. Sie ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt mit den Arbeitsschwerpunkten Raumbezogene Gesellschaftsanalyse und Stadt- und Regionalsoziologie.
Ausgangspunkt für beide Ansätze bildet ein relationales Raumverständnis. Die Raumtheorie unterscheidet zwischen absolutistischen und relativistischen Raumvorstellungen. In der absolutistischen Vorstellung existiert der Raum unabhängig von der Materie. Bewegliche Körper und Dinge befinden sich in einem Raum, der selber unbewegt bleibt. Der Raum existiert kontinuierlich, für sich und bildet für alle eine gleiche, homogene Grundlage des Handelns. Diese Vorstellung eines «Behälterraumes» wurde in der Wissenschaft mit der Entwicklung der Relativitätstheorie von relativistischen Raumkonzeptionen abgelöst. Sie prägt jedoch nach wie vor das alltägliche Verständnis von Raum.
In der relativistischen Raumvorstellung existiert der Raum nicht unabhängig von den Körpern. Raum wird vielmehr verstanden als Relation, als Beziehungsstruktur zwischen Körpern. Die Körper, deren Anordnungen zueinander den Raum erst hervorbringen, befinden sich in ständiger Bewegung. Damit ist auch der Raum selber nicht mehr statisch, sondern wird prozesshaft und verändert sich fortwährend im Verlauf der Zeit. Da die Anordnung von Körpern nicht unabhängig vom Bezugssystem des Beobachters gedacht werden kann, ist Raum (wie die Zeit) nicht «absolut», sondern existiert stets «relativ» zum Bewusstsein des Beobachtenden.
Nachfolgend werden die für das Forschungsprojekt zentralen Aspekte der Theorien von Lefebvre und Löw zusammenfassend dargestellt.
Der Raumbegriff bei Henri Lefebvre
Die nachfolgende Zusammenfassung der für das Forschungsprojekt wesentlichen Aspekte der Theorie von Henri Lefebvre basiert auf der Darstellung von Christian Schmid im theoretischen Teil von «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait». Lefebvre versteht Raum als gesellschaftlich hergestelltes, soziales Produkt. Er unterscheidet drei Ebenen, drei Dimensionen der Produktion von Raum, die dialektisch miteinander Verbunden sind.Die erste Dimension der Raumproduktion bezeichnet Lefebvre als «räumliche Praxis». Ausgangspunkt ist die materielle Dimension des Raumes. Die materiellen Elemente und Objekte, welche Raum bilden, werden sinnlich wahrgenommen und zu einer räumlichen Ordnung des Gleichzeitigen verknüpft. Räumliche Praxis bezeichnet alles, was Menschen im und mit dem Raum tun: Welche Gegenstände und Objekte sie errichten, wie sie diese und sich selber im Raum bewegen, wie sie mit der Topografie umgehen, wie und wozu sie den Raum nutzen.
Die zweite Dimension der Raumproduktion ist der «konzipierte Raum». Die Verknüpfung von einzelnen wahrgenommenen, materiellen Elementen zu einem Raum setzt eine gedankliche Leistung, eine Vorstellung von Raum voraus. Diese «Repräsentationen des Raumes» umfassen sprachliche Beschreibungen, bildliche Darstellungen, Karten, Pläne, wissenschaftliche Definitionen etc. Darstellungen und Definitionen von Raum basieren auf gesellschaftlichen Konventionen und werden diskursiv verhandelt.
Die dritte Ebene der Produktion von Raum ist die Ebene der Bedeutung, des symbolische Gehaltes. Sie ist für die Erfahrung, das Erleben von Räumen entscheidend. Räume werden mit einem symbolischen Gehalt belegt, sie bezeichnen etwas ausserhalb ihrer selbst. Die symbolische Bedeutung von Räumen äussert sich beispielsweise in der Architektur von Sakralräumen oder von Räumen der Repräsentation politischer Macht. Sie zeigt sich in der Bedeutung von Kulturlandschaften für das Selbstverständnis eines Landes, sowie von Orten, die für die individuelle Biografie wichtig sind.
Raum entsteht im Zusammenspiel dieser drei Pole. Er ist nicht als Anordnung von materiellen Objekten und Artefakten zu verstehen, sondern als das praktische, mentale und symbolische Herstellen von Beziehungen zwischen diesen «Objekten». Raum ist nicht ruhend, immobil, gegeben, sondern ein vielschichtiges Gewebe, das laufend produziert und reproduziert wird.
Der Raumbegriff bei Martina Löw
Martina Löw entwickelt ihre Theorie des Raumes aus einer soziologischen Perspektive. Ihre Position steht beispielhaft für den gegenwärtigen «Spatial Turn» in den Geistes- und Sozialwissenschaften.Löw versteht Raum als «relationale Anordnung von sozialen Gütern»: von materiellen Elementen und Menschen. Raum ist nicht gegeben, sondern wird über das Anordnen von Elementen (in Relation zu anderen Anordnungen), also über Handlungen, hervorgebracht. Die Konstitution von Raum ist als Prozess zu verstehen. Löw unterschiedet dabei zwei verschiedene Prozesse der Raumkonstitution: Spacing und Synthese. Diese sind der «Räumlichen Praxis» und der «Konzeption von Raum» bei Lefebvre vergleichbar.
Spacing bezeichnet das Platzieren, das Errichten, Bauen oder Positionieren von Gebäuden, aber auch von beweglichen Gütern. Über Prozesse der Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung werden die einzelnen Elemente, die im Spacing platziert werden, miteinander verknüpft und zu Räumen zusammengefasst. Der Raumtyp «Strasse» z.B. entsteht, wenn Gebäude, Fahrbahn, Passanten, Fahrzeuge, angrenzende Läden sowie Kleinelemente wie Sitzbänke, Strassenlampen, Abfallkübel, Bäume etc. in einem bestimmten Verhältnis zueinander erbaut und platziert werden und von den Menschen, die sich darin bewegen, in der Wahrnehmung und Vorstellung entsprechend verknüpft werden. Diesen Verknüpfungsprozess bezeichnet Löw als Synthese. Im alltäglichen Handeln können die beiden Prozesse nicht voneinander getrennt werden. Das Bauen, Errichten und sich im Raum Bewegen ist ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden Elemente nicht möglich. Vorstellungen davon, was ein Raum ist und sein kann – was z.B. eine «Strasse», ein «Platz» ist – bestimmen, was wo gebaut wird. Darstellungen von Raum in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Planung, in der Architektur versteht Löw entsprechend ebenfalls als Syntheseleistungen. Sie bezeichnet diese als abstrahierend, da sie keine direkten Spacings nach sich ziehen.
Spacing und Synthese erfolgen im Alltag repetitiv. Die Anordnung von Elementen zu einem bestimmten Raumtyp folgt je einem Ordnungsprinzip. Die Elemente, welche den Raum «Strasse» bilden, werden immer nach einem vergleichbaren Muster angeordnet und wahrgenommen. Diejenigen Prozesse der Raumkonstitution, welche nach vorgegebenen, gesellschaftlich und institutionell abgesicherten Regeln erfolgen, bilden räumliche Strukturen. Raum, verstanden als relationale Anordnung, als Beziehung zwischen Elementen, hat selber keine materielle Qualität. Er wird aber als gegenständlich erlebt, wenn die Relationenbildung, also die Anordnung der Elemente, institutionalisiert wird, d.h. nach immer den selben Regeln erfolgt.
Das Spacing, das Platzieren, Errichten, Bauen von materiellen Elementen, ist an einen konkreten Ort gebunden. Dieser spezifische, meist geografisch markierte Ort, die konkrete Stelle machen die Entstehung von Räumen erst möglich. Umgekehrt bringt der Prozess der Raumkonstitution den Ort hervor: Orte werden erst über die Besetzung mit konkreten materiellen oder symbolischen Gütern als solche kenntlich. Das Verhältnis von Ort und Raum ist ein wechselseitiges: Die Konstitution von Räumen schafft Orte, der Ort macht die Entstehung von Räumen erst möglich. Dabei können an einem Ort unterschiedliche Räume gleichzeitig existieren. Je nachdem, wie, von wem und aus welcher Betrachterperspektive die platzierten Elemente miteinander verknüpft werden, entstehen andere Räume am gleichen Ort.
Löw betont die Bedeutung der sinnlichen – visuellen, akustischen, taktilen, olfaktorischen –Wahrnehmung für den Prozess der Raumkonstitution. Die atmosphärische Qualität von Räumen entsteht in der Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung der Elemente, welche den Raum bilden, und der symbolisch-materiellen Ausstrahlung, der Wirkung dieser Elemente. Wahrnehmung wird dabei als Handlung, als Aktivität verstanden. Sie ist selektiv und geprägt durch Wahrnehmungsschemata, welche über Bildung, Sozialisation und individuelle Biografie vorgegeben sind. Die symbolisch-materielle Wirkung der Elemente und Gegenstände ist über Gestaltung und Design inszeniert und gesteuert. Die atmosphärische Qualität von Räumen ist deshalb nicht rein subjektiv und individuell, sondern sozial produziert. Sie entsteht über die Wechselwirkung von inszenierten Platzierungen und habitualisierter Wahrnehmung.
Die Verknüpfung von Elementen zu Räumen – in Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung – erfolgt immer aus einem spezifischen Blickwinkel. Es kann deshalb keine «objektive», betrachterunabhängige Produktion, Darstellung und Beschreibung von Räumen geben. Im Sinne einer "Beobachtung zweiter Ordnung" kann die Betrachterposition jedoch problematisiert und deutlich gemacht werden, z.B. in der Wissenschaft oder in der Kunst.
Zentrale Begrifflichkeiten fĂĽr ein fotografisches Archiv zur Raumentwicklung
Ein relationales Verständnis von Raum, wie es bei Lefebvre oder Löw entwickelt wird, bildet die Grundlage für die Konzeption eines fotografischen Archivs zur Raumentwicklung. Zentral sind folgende Überlegungen und Begrifflichkeiten:Raum als Prozess
Raum entsteht in der relationalen Anordnung, im Platzieren von Objekten und Elementen: Artefakten, Menschen und topografischen Gegebenheiten. Diese werden über Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung zu Räumen verknüpft. Die Konstitution von Raum ist ein aktiver Produktionsprozess, der sich in der Zeit abspielt.Räumliche Praxis
Auf der materiellen Ebene wird Raum produziert über den konkreten, alltäglichen, praktischen Umgang mit Objekten und Dingen. Räumliche Praxis beschreibt, was Menschen im und mit dem Raum tun: Was sie wo bauen, aufstellen, platzieren, wie und wozu der Raum genutzt wird, wer sich darin bewegt.Repräsentationen von Raum
Konzeptionen von Raum werden im Diskurs, über Beschreibungen, wissenschaftliche Definitionen, visuelle Darstellungen, Karten, Pläne etc. formuliert und verhandelt. Raumvorstellungen sind gesellschaftlich produziert und durch Konventionen der Wahrnehmung und Darstellung geprägt. Repräsentationen von Raum und räumliche Praxis beeinflussen sich wechselseitig.Atmosphäre
Räume haben neben ihrer materiellen eine symbolische und atmosphärische Dimension. Bedeutung und atmosphärische Qualität sind keine rein subjektiv-individuelle Erfahrung, sondern sozial produziert. Sie entstehen über das Wechselspiel zwischen Inszenierung (und Gestaltung) und habitualisierter Wahrnehmung.Raum und Ort
Die Beziehung von Raum und Ort ist wechselseitig: Die Produktion von Raum, das Platzieren und Anordnen, ist an den konkreten Ort gebunden. Umgekehrt wird der Ort über die symbolische und materielle Besetzung erst als solcher kenntlich. An einem Ort sind unterschiedliche Anordnungen und Verknüpfungen möglich, es können deshalb verschiedene Räume am selben Ort existieren.Position des Betrachters
Das Positionieren und die Verknüpfung von Elementen zu Räumen in Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung erfolgt immer aus einem spezifischen Blickwinkel. Es gibt deshalb keine beobachterunabhängige Wahrnehmung und Darstellung von Raum.Literatur
Döring, Jörg et al. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008.Dünne, Jörg et al. (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2008.
Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Paris 1974.
Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001.
Schmid, Christian: Netzwerke – Grenzen – Differenzen: Auf dem Weg zu einer Theorie des Urbanen. In: Diener, Roger et al. (Hg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait. Basel 2006, S. 164 – 223.
Schmid, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaf. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart 2005.
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